Ruth
To swag heisst eine supercoole Art zu schlendern auf Englisch und als ich Ruth das erste Mal gesehen habe, hatte sie genau diese Gangart drauf. Eine frisch-fröhliche Draufgängerin kam mir im Revital Hotel entgegen. Ruth war eine Schützegeborene und ich schreibe diesen Text unter dem Leuchten des Strawberry Fullmoon, der in ihrem Zeichen steht. Viele solche Serendipity Zeichen von Seelenschwesternschaft gab es nicht zwischen uns beiden. Sie hatte ein volles Leben in Australien, der Karibik und Amriswil gelebt, während ich seit 30 Jahren in Herrliberg vor mich hinträume. Doch ich fühle mich seit immer schon hingezogen zu solch sonnigen Himmelskörpern und spiele mit diesem Blog gern Texttrabant. Meine Laufbahn ist gerade sehr volatil und ich brauche ab und zu ein Zentrum, um das ich rotieren kann. Von denen habe ich mit sechzig einige, doch für Golden Girl Ruth hat es noch Raum. Ich habe sie nur kurz gekannt und es war fast unmöglich, ihre ganze Lebensgeschichte zu verstehen und zu ordnen. Die Liebe hat eine grosse Rolle gespielt, wie die Verletzungen durch ihre Familie, die Emigration auf die andere Seite der Welt, ihre Liebe zu den Bergen in der Schweiz. In ihrer Gegenwart ist es mir leicht gefallen soziale Gschämi zu vergessen und zu sagen: «Sorry, aber die meiste Zeit, wenn ich meinen Schweizer Freunden zuhöre, wie sie diesen Berg oder den anderen Berg hinaufgewandert sind, stelle ich auf weisses Rauschen und versuche krampfhaft das Gefühl zu verstehen, wieso sie das tun.» Dieses Outing fand sie lustig und hat es im Gedächtnis behalten. Als ich dieses Jahr sechzig geworden bin, bekam ich ein whatsapp von ihr, mit der Einladung mit ihr auf die Schwägalp zu kommen. «Damit du merkst, was diese Liebe ist.» Ich hatte meine Zweifel, aber wahrgenommen werden in einem Moment des Ungenügens war schon ziemlich bemerkenswert und ich blieb dran an unserer Idee. Ruth war schon schwer belastet körperlich im letzten November und ist Ende Jahr von Australien nach Amriswil zurückgezogen in eine nette Alterswohnung. Ich habe sie dort besucht und für sie gekocht, doch die Zeit und die Energie, die ihr noch blieben, wollte ich nicht überstrapazieren. Sie hat die Annabelle gelesen, die ich ihr gebracht habe, während ich die Pasta kochte. Ein schöner Moment des Zusammenseins. «Nicht die Schwägalp, aber das machen wir!» sagte sie mir zum Abschied. Als ich ein Telefonat bekommen habe von einem Herrn, der eine Wunschambulanz betreibt, war ich nicht gefasst, auf was da kam. Ruth war im Hospiz St. Gallen und in der Endrunde. Doch diese wunderbare Benefizsache auf vier Rädern hat es ihr ermöglicht (und mir) auf die Schwägalp zu gelangen für ein letztes Adieu. Zwei Fachfrauen, ein Fahrer, ein Spezialbett, zwei Sauerstoffkanister und den Willen dieses Menschenkinds haben es vollbracht, dass ich am 22. Mai den Säntis in seiner ganzen Pracht erleben durfte. Viele Leute waren da, da es der erste sonnige Tag seit wochenlangem Regenwetter war und die kleine Prozession, die in das Restaurant rollte, hat die Freizeitgeniesser wohl überrascht. Doch das Charisma von Ruth war so leuchtend und fröhlich und ansteckend, dass vom Cordon Bleu bis zum Aperol Sprizz alles in Feststimmung abgelaufen ist. Sie hat erzählt von ihrem sechzigsten Geburtstag, den sie hier gefeiert hat. Vom «Laternliweg», den sie mit ihren Gästen genossen hat in der Nacht. «Der Säntis ist ein Drachenberg», sagte mir Katahrina Remund, meine Prozessbegleiterin, gestern. «Sie hat dort Kraft geholt.» «Kraft wofür?» habe ich gefragt. «Kraft zu sterben, denn auch das Sterben braucht Energie.» Am 31. Mai hat Ruth am Nachmittag ihr Schläfchen ins Unendliche verlängert. Was bleibt für mich? Ein Funke im Herzen. Der Verdacht, dass ich die Liebe zu den Bergen kultivieren kann. Den Drachenberg werde ich wieder besuchen und die Kraft aufsaugen, die er abgibt. Ob ich Swaggering-Style den Weg bis zur Spitze bewältige oder den Laternliweg entlang gehe, weiss ich noch nicht, doch Ruth wird dabei sein mit mir.