Ich pflanze mein Leben/2
Ich muss keine Gespräche mit dem Jenseits führen, um in meinem Herzen zu wissen, das viele meiner unbändigen Ahninnen gestorben, weil sie einfach so waren, wie sie waren. Das muss nicht immer durch Gewalt geschehen sein. In Süditalien stirbt man noch schneller an Ächtung. Wenn man nicht reinpasst, wenn man anders denkt, wenn man jemanden beleidigt, wenn man alleine ist und ohne Hilfe. Allein schon wer krank ist und im Spital liegt, braucht eine ganze Sippe für den Rundum-Service wie saubere Bettlaken, gutes Essen und Personenschutz. Meine Ma wurde entwurzelt und hat trotz dieser Grossfamilien-Sozialisation als Solistin beeindruckende Riesenschritte gewagt. Es brauchte von unserer ganzen Familie zwar sehr viel Nerven, um auszuhalten, wie sie wirklich war. Inkl. Ehemann, der ihr alles verbieten konnte und es auch lange Zeit getan hat.
Ich bin für ihren Kampf und für die elterliche Emigration in die Schweiz einmal mehr sehr dankbar. Auf dem Kompost von Generationen von weiblicher Unterdrückung bekam ich all die wunderbaren Chancen auf dem Silbertablett serviert: Gute Ausbildungen, gute Jobs und ein komfortables Leben. Auch privat war es easy, die Trennung nach dem Konkubinat mit Kindern relativ geschützt, die Scheidung mit dem neuen Eherecht ziemlich fair.
Doch Krankheit stellt alles auf den Kopf.
Bei meiner Ma hat mich ihre leise Frage: „Wie stirbt man in der Schweiz? Ich weiss nicht wie man hier stirbt.“ sehr traurig gemacht. Obwohl ihre Schwestern kamen, genau vor fünf Jahre um diese Zeit im Oktober, war sie ganz am Schluss ganz allein. So stirbt man in der Schweiz, Ma. Die Verwurzelung hat sich im letzten Jahr auch als fragiler heraus gestellt als ich es gedacht habe. Mein Körper wurde Teil von Hochrechnungen. Ich hatte zwar nie das Gefühl, jemand stellt sich über mich, wenn es um Entscheidungen ging, doch habe ich vergeblich in mir drin einen urweiblichen Kompass gesucht. Nur die Lilith Energie des Widerspruchs stellte sich ein. Selbstverständlich bin ich gewohnt dVerantwortung für mich zu tragen, kein Vater, kein Mann und kein Pfarrer haben das je für mich getan. Doch es war eher das Fehlen eines Gefühls für meine ureigene weiblichen Historie, das mich erschüttert hat. Ich hatte einfach meine Ma als Vorbild, und eigentlich war es genug.
Ich nehme mir trotzdem wirklich nochmals vor, bewusst Wurzeln zu schlagen. Wortwörtlich. Ich besitze kein Stück Land, pachte aber seit 12 Jahren einen Schrebergarten. Für circa drei Jahre ist er noch mein, dann kommen Genossenschaftswohnungen hin.
Meine Verwurzelungsvision beginnt mit der Scholle: Ich will alles wissen über die Beschaffenheit, über möglichen Altlasten im Grund und Boden. Ich will ihn verbessern mit Gründünger, einer Pflanze, die man jetzt sät und die man im Frühjahr untermengt. Ich will ihn mit neuen Ideen fit machen für die heissen Sommer. Ich will ihn Unkrautfrei haben. Aber vor allem: Ich will ihn öffnen, um etwas weiterzugeben.
Im Osten pflanze ich das Lungenkraut aus dem Simmental, so wird es beginnen. Und vielleicht werde ich ja die Kräuterhexe von Herrliberg. Wie ich vermute, waren meine Ahninnen schon die Kräuterhexen von Salerno. Die Angst, die in mir aufsteigt, wenn ich dies schreibe, ist wie ein Telegramm aus dem Jenseits. Aber ich habe hier nichts zu fürchten, liebe Ahninnen. Ich habe einen Schweizer Pass gekauft und mein Heimatort ist Herrliberg. Sie müssen mich behalten und ich habe nicht nur Pflichten sondern auch Rechte.