15
Feb.
2025
0

Papa, geb. 15. Februar 1931

Es sind die Fünfziger im Süden von Italien. Das Leben sieht aus wie ein schwarz-weiss Foto: Schön von Aussen, verzweifelt im Innern. Im verwinkelten Pagani bei Salerno taucht ein kurioser Mann auf. Er trägt einen grossen verzierten Messingteller und einen lustigen Hut. In einer ruhigeren und nicht ganz so dreckigen Ecke stellt er seinen Stand auf. Er beginnt Karten zu legen. „I Tarocchi“. Für ein paar Centesimi fragt der junge Gennaro mutig nach seiner Zukunft. Er arbeitet wie ein Mann seit er sechs Jahre alt ist und will einen Tipp für ein besseres Leben. Er ist jetzt bald dreissig. Der Kartenleger sagt ihm zu seinen Karten: „Das Pech verfolgt Dich hier, ganz egal wie sehr Du Dich anstrengst. Geh und such und finde Dein Glück in der Fremde“. Diese echte Prophezeiung ändert ein Leben von Grund auf. Das Leben meines Vaters.

Der Magier und der Gehängte kommen mir in den Sinn. Sie würden passen für Gennaro Esposito, erstgeborener Sohn und interimistischer Chef der sechsköpfigen Familie bis sein Vater, der mit der Armee nach Afrika gereist ist, wieder nach Hause kommt. Er ist dann 14 Jahre alt. Gennarino ist von klein auf lernbegierig, intelligent und schön. Und doch bleibt das Glück nicht bei ihm. Obwohl ihm die Chancen zufliegen, stellt ihm immer wieder jemand oder etwas das Bein. In der Schule kann er den Abschluss wegen einer Lungenkrankheit nicht machen. Am Marktstand mit seinem Papa wird der gebüsst, weil der Kleine minderjährig ist. Sein Capo in der Schmiede betrügt ihn um seine Beiträge.

Vielleicht lag auch der Narr obenauf. Obwohl kein Boden zu spüren ist, macht mein Vater den Schritt ins Leere und in die Fremde. Zuerst mit einem Halt in Saronno, wo er in der Fabrik Nasenbluten bekommt und weiterreist, um dann in Schwamendingen anzukommen, wo er oberhalb von einer Metzgerei ein Zimmer und ein warmes Willkommen bekommt. Eine Arbeitsvermittlerin am Paradeplatz verhilft ihm zu einer Arbeit als Schlosser in der Wagonsfabrik in Schlieren für einen horrenden Geldbetrag. Der sich aber lohnt. Die Schweiz kassiert ihn ab, aber zahlt sich auch aus.

Mit Sicherheit lag der Ritter der Schwerter auf dem Messingschild, denn der Kampf geht weiter. Der Vorarbeiter in der Fabrik gibt ihm einen Besen in die Hand, obwohl ihn der Chef für die noble Abkantmaschine vorgesehen hat. Ein Fehler, den der Vorarbeiter nie mehr vergisst. Mein Vater fegt den Platz nicht wie aufgetragen, sondern gibt ihm den Besen zurück mit den Worten: „No, no. Io specialista, tu domanda Capo.“ Mein Papa erlaubt den Menschen sich in ihm zu täuschen, aber nicht mehr als einmal.

Als Chef seiner eigenen Familie erlebt er den Turm. Sein Ego zerfällt. Im Privaten wird er ein emanzipierter Teamplayer, der alles tut für seine Kinder. Die Ehe ist schwierig, meine Ma eine abgebrühte Manipulatorin und Herrscherin in einem. Manchmal ist sie einfach zu viel Hexe. Gegen seinen Frust brüllt mein Vater wie das jüngste Gericht.Helfen tut es nicht viel. Sein Paradies wird mit der Zeit der Giardino: Er widmet sich dem Garten zusammen mit meiner Mutter mit grosser Innigkeit.

In den letzten 10 Jahren haben Krankheit, Tod und Altersgebrechen unsere Familienlandschaft durchgepflügt. Das Rad des Schicksals dreht sich. Meine krisen-gestählten Fähigkeiten werden in diesem Neuland gebraucht. Ich darf auf meine Art eine italienische Tochter sein und bin zufrieden damit. Heute lebt mein Papa im Pflegezentrum neben dem Spital Limmattal und ist 94 Jahre alt.

Ich liebe ihn sehr.

 

 

 

Leave a Reply